Eine Weihnachtsgeschichte von Rolf Goergen

„Ich bin nicht allein – ich habe doch meine Gedanken“

Eine kleine Weihnachtsgeschichte – von Kilians Großvater Rolf Goergen

Viele alte Menschen fühlen sich gerade an Weihnachten allein gelassen und vereinsamt. Aber diese kleine Geschichte macht deutlich, dass es auch Ausnahmen gibt.

Weihnachten, das Fest der Liebe, das Fest der Besinnung und inneren Einkehr – und: das Fest der Familie. Ist es das wirklich? Kommen die Menschen wirklich zur Ruhe und Besinnung? Oder sind es – nach dem Einkaufstress – nur die paar freien Tage mit gutem Essen und Trinken inklusive üppigen Geschenken? Bei vielen Menschen werden diese Dinge mit Sicherheit einen hohen Stellenwert einnehmen.

Die Art, Weihnachten zu feiern, ist wohl auch altersbedingt unterschiedlich. Ältere Menschen haben durch ihre Lebenserfahrung einen gewissen Abstand zur Ungestümheit und Hektik des Daseins erlangt; mit ihrem ausgeglichenen Wesen sind sie in der Lage, alles gelassener und bescheidener zu sehen, wo andere noch mächtig „auf den Putz hauen“. Ältere Menschen können vor allem eins besonders gut: sie können zuhören und abwägen. Das haben sie in einem langen Leben gelernt. Da die Vergangenheit bei den Alten eine große Rolle spielt, verbringen sie sehr viel Zeit in der Welt der Gedanken; für manch einen sind die Gedanken überhaupt die einzigen Verbündeten. Und, das sei gesagt, nicht alle allein lebenden Menschen sind deshalb vereinsamt, mürrisch und verbittert. Meist dominieren Herzenswärme und Ausgeglichenheit. Folgende kleine Weihnachtsgeschichte verdeutlicht dies sehr anschaulich.

Es war früher Abend in der Adventszeit, genauer gesagt, ein Tag vor Heiligabend. Ein alter Mann steht im Lichterglanz der weihnachtlich geschmückten Fußgängerzone einer kleinen Stadt an der Mosel. Es duftet nach Nadelbäumen, Harz und Gebäck. Eine stimmungsvolle Atmosphäre, die bei Jung und Alt das Herz erwärmt. Geschäftig hasten die Menschen durch die Straßen, um noch ganz schnell die letzten Besorgungen zu machen. Fast alle scheinen ein festes Ziel anzustreben, im Gegensatz zu dem Alten; er war allein und hatte viel, sehr viel Zeit. Mit bedächtigem Schritt war er, nachdem er sein Haus verlassen hatte, ziellos durch die altvertrauten Gassen gestapft. Sein Blick schweifte hinüber zu einem Schaufenster, das mit prächtigen Geschenkartikeln reich dekoriert war. Ein Goldland für die Kleinen. Aber es waren nicht die Spielsachen, die seine Aufmerksamkeit erweckten. Nein, es war eine junge Familie: Mutter, Vater sowie zwei putzmuntere Kinderchen, die voller Begeisterung die Auslagen bestaunten.

Der alte Mann dachte zurück an seine eigene Jugendzeit und Familie: ein verklärtes Schmunzeln überflog sein zerfurchtes Gesicht. Aber die Zeit war nicht stehen geblieben. Das war vor 2000 Jahren nicht anders. Die Zeit ging dahin und nun stand er hier als alter Mann. Im vorigen Jahr war ihm plötzlich die Frau gestorben, die beiden Kinder längst auswärts verheiratet. „Ja, ja“, pflegte er zu sagen, wenn er auf das Alleinsein angesprochen wurde, „ja, ja, das ist der Lauf der Lebens“.

Die rechte Hand packte den gebogenen Griff des Stocks fester, so dass die Knöchel weiß hervortraten. Es war das rechte Knie, das ihm seit einigen Monaten zu schaffen machte. „Verschleiß“, hat ihm der Doktor kurz und treffend diagnostiziert, „da kann man nichts mehr machen“. Wenn er die alten Knochen erst mal in Bewegung gebracht hatte, ging es einigermaßen. „Also los, alter Knabe, mach’ dich nach Hause in die warme Stube“, sagte er zu sich selbst und wollte seinen Weg fortsetzen. Der Lichterglanz des nahen Weihnachtsbaumes fiel für einen kurzen Moment auf seine grau-blauen Augen. War da ein feuchter Schimmer…?

Mit jähem Ruck wandte er sich zur Seite und wollte just in die nahe Seitenstraße einbiegen. Da hörte er die Stimme des jungen Familienvater: „Hallo, Herr Waldmann, noch so spät unterwegs? – Es tut mir aufrichtig leid, dass Sie jetzt so alleine sind – gerade an Weihnachten!“

Der Alter war stehen geblieben und antwortete mit ruhigem, freundlichen Tonfall: „Junger Freund, vielen, herzlichen Dank für Ihre mitfühlenden Worte. Aber ich bin nicht allein, ich habe doch meine Gedanken – und wunderschöne Erinnerungen. – Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie ein frohes Fest!“ – Dann stapfte er weiter.

Einen Augenblick war der Jüngere irritiert und verdattet, ehe er stammelte: „Ja … ja, das Gleiche wünsche ich Ihnen auch … Frohe Weihnachten!“ – Nachdenklich gesellte er sich zu seiner Familie, die schon ein Stückchen des Weges vorausgegangen war.

Die Begegnung mit dem Alten hinterließ bei dem jungen Mann eine nachhaltige Wirkung. Für ihn stand fest, dass er das Fest der Feste mit seinen Lieben zwar fröhlich feiern würde, aber auch, im Gegensatz zu sonst, ein wenig besinnlicher und nachdenklicher…

In diesem Sinne allen Menschen, die sich besonders in der aktuellen Situation einsam fühlen – ein harmonisches, gedankenreiches, aber auch fröhliches Weihnachtsfest!

Veröffentlicht am: 23. Dezember 2021
Kategorie: Aktuell